Die Geschichte der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft

2. Die Gründungsphase der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft

 
Victor Aimé Huber  

Victor Aimé Huber hatte zur Behebung der Wohnungsnot ursprünglich das Prinzip genossenschaftlicher Selbsthilfe propagiert. Durch Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentum sollten aus "besitzlosen Arbeitern" "arbeitende Eigentümer" werden. Dennoch sollten zunächst die Baugesellschaften die dominierende Rolle bei der Entstehung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft spielen. Dafür waren vor allem finanzielle und rechtliche Gründe entscheidend.

So waren die Arbeiter lange nicht in der Lage, allein und ohne "Hilfe von oben" genügend Kapital zusammenzubringen. Vor allem aber fehlte bis 1868, als das erste Genossenschaftsgesetz als norddeutsches Bundesgesetz erlassen wurde, jegliche rechtliche Basis. Im Gegensatz dazu war die Aktiengesellschaft schon seit Mitte des 18. Jahrhunderts als Organisationsform für Unternehmen bekannt. So kam es dazu, daß sich ab Mitte des 19. Jahrhunderts in erster Linie Wohnungsgesellschaften in der Form der Aktiengesellschaft auf gemeinnütziger Grundlage bildeten. Sie dominierten die gemeinnützige Wohnungswirtschaft bis in die 1890er Jahre. Allerdings dürfen auch die Bemühungen im Rahmen der Baugenossenschaftsbewegung, insbesondere nach Erlaß des Genossenschaftsgesetzes von 1868, das eine Welle von Genossenschaftsgründungen zu Beginn der 1870er Jahre auslöste, nicht unerwähnt bleiben.

2.1. Die gemeinnützigen Baugesellschaften

Die erste Gründung einer gemeinnützigen Baugesellschaft erfolgte bereits 1825 mit dem "Elberfelder Bauverein auf Aktien". Es handelt sich dabei aber um eine singuläre Früherscheinung von geringer Bedeutung. Immerhin kann der Bauverein, der die Dividende auf seine Aktien auf 5 Prozent beschränkte, als früher Vorläufer der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft gesehen werden. Entscheidendere Impulse gingen von Berlin und Hamburg aus, wo es etwa ab 1840 zu reformerischen Bestrebungen kam. Dabei war es in Berlin der königlich preußische Landbaumeister Carl Wilhelm Hoffmann (1806-1898), der entscheidenden Anteil an der Entwicklung hatte. Hoffmann hatte schon 1841 einen Versuch zur Gründung eines "Häuserbau-Vereins" unternommen, der allerdings am Desinteresse des Berliner Magistrats und der Architektenschaft scheiterte. Es fanden sich keine Geldgeber. Er gründete dann 1846 den "Verein zur Verbesserung der Arbeiterwohnungen", um die wohnungsreformerischen Kräfte zu sammeln. Seine Denkschrift "Die Aufgabe einer Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft" sollte schließlich den entscheidenden Anstoß zur Gründung der ältesten gemeinnützigen Baugesellschaft, der bereits erwähnten "Berliner gemeinnützigen Baugesellschaft" (BGB) von 1847, liefern. Im April 1847 kam es zu einem entsprechenden Gründungsaufruf; am 15. November 1847 wurden die Statuten angenommen. Bis zur offiziellen Bestätigung dauerte es infolge der revolutionären Ereignisse seit März 1848 noch ein knappes Jahr, und zwar bis zum 28. Oktober 1848. Die Gründung erhielt auch Unterstützung durch das preußische Königshaus: Prinz Wilhelm, der spätere Kaiser Wilhelm I., übernahm das Protektorat. Hoffmann selbst wurde Leiter des Unternehmens.

Die Kriterien der Gemeinnützigkeit, die viel später in das Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz eingehen sollten, waren bei der BGB bereits vorgezeichnet. Dabei ging es neben der Gewinnbeschränkung – die Dividende wurde auf 4 Prozent festgeschrieben – um die Ausrichtung auf Bedürftige, die Verpflichtung zum Bau von Wohnungen und die Zweckbindung der Mittel. Die Kapitalgesellschaften entwickelten die wichtigsten Kriterien der Gemeinnützigkeit eigenständig, ohne staatlichen Auftrag. Es stellte sich aber bald heraus, daß die Gewinnbeschränkung angesichts der Rechtslage Probleme bei der Beschaffung von Kapital mit sich brachte. Es kam daher 1856 zur Gründung der "Actien-Baugesellschaft Alexandra-Stiftung", die auf eine Spende des russischen Zaren Nikolaus I. und seiner Gemahlin Alexandra an die gemeinnützige Baugesellschaft zurückging. Der Zar wollte damit die Anliegen der Wohnungsreformer unterstützen. Die Stiftung sollte bei der weiteren Beschaffung von Kapital behilflich sein. Sie stand in enger organisatorischer Verbindung zur BGB, war aber auch selber im Wohnungsbau tätig. Die Kapitalbeschaffung sollte ein Hauptproblem der BGB und der meisten anderen gemeinnützigen Baugesellschaften bis zur Änderung der Rechtslage durch das Invaliditäts- und Alterssicherungsgesetz vom 22. Juni 1889 bleiben.

In der Folge bildeten sich in andern Städten ähnliche Baugesellschaften. So entstand 1856 die "Stadtsiedlung Heilbronn", die älteste heute noch bestehende Baugesellschaft, unter Einfluß des Fabrikanten Adolph von Rauch (1798-1882). In Hamburg scheiterte ein erster Gründungsversuch im Jahre 1857. Hier entstand 1862 die erste Baugenossenschaft, von der später noch die Rede sein wird. Es folgten die "Baugesellschaft von 1866" und die "Gemeinnützige Baugesellschaft von 1878". Diese Gründungen gingen auf Hamburger Kaufleute zurück, die wirtschaftliche Grundsätze mit dem philanthropisch-idealistischen Gedanken des gemeinnützigen Wohnungsbaus für einkommensschwache Schichten verbinden wollten. Weitere gemeinnützige Baugesellschaften wurden in den 50er und 60er Jahren in Halle (1851), Stettin (1853), Lüdenscheid (1853), Pforzheim (1857), Hagen (1861), Königsberg (1861), Nürnberg (1862) und Görlitz (1864) gegründet.

Insgesamt spielten die gemeinnützigen Baugesellschaften in dieser Phase der Entstehung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft die dominierende Rolle. Sie hatten aber mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die den Wirkungsgrad der Bewegung in erheblichem Maße einschränkten. Die wesentlichen Grundlagen zum Aufschwung des Wirtschaftszweiges sollten erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelegt werden. Dabei ist in bezug auf die gemeinnützigen Baugesellschaften insbesondere die zunehmende staatliche Unterstützung durch Vergünstigungen wie den Erlaß von Steuern und Gebühren zu nennen.

Mit rechtlichen Problemen hatte auch der zweite Zweig der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sich formierenden gemeinnützigen Wohnungswirtschaft zu kämpfen, die Baugenossenschaften. Standen die gemeinnützigen Gesellschaften zumeist auf karitativer Grundlage, so beruhten die Baugenossenschaften auf dem Gedanken der Selbsthilfe.

2.2. Die Baugenossenschaften

Die von Huber propagierten Baugenossenschaften traten etwas später als die gemeinnützigen Baugesellschaften, etwa ab Mitte der 1860er Jahre, in den Blickpunkt der Öffentlichkeit. Der erste Schritt zur Entwicklung des Baugenossenschaftswesens wurde in Hamburg getan, wo es 1862, noch vor dem Erlaß des ersten Genossenschaftsgesetzes, zur Gründung der Baugenossenschaft in Hamburg-Steinwerder kam. Daher handelte es sich hier um eine Genossenschaft im soziologischen, nicht im rechtlichen Sinne – also um ein Wohnungsunternehmen genossenschaftlicher Prägung. Die Genossenschaft, die von dem Gründer der Hamburger Volksbank, C.F. Balzer, initiiert wurde, ist vor dem Hintergrund des Scheiterns der Gründung der gemeinnützigen Baugesellschaft von 1857 (s.o.) zu sehen. An die Stelle des gemeinnützig-karitativen Charakters der ‘Hilfe von oben’ trat der Versuch, mit eigenen Mitteln und gemeinschaftlichem Kredit Arbeiterwohnungen zu errichten. So wurde die Steinwerder Genossenschaft ungeachtet der fehlenden positiv-rechtlichen Grundlage ein Markstein auf dem Entwicklungsweg des Baugenossenschaftswesens.

Nach dem Erlaß des Genossenschaftsgesetzes von 1868 kam es Anfang der 1870er Jahre zu einer Reihe weiterer Gründungen von Baugenossenschaften. Die älteste noch bestehende Baugenossenschaft konstituierte sich 1871 in München. Sie entstand auf Initiative des Arbeiterbildungsvereins unter Beteiligung von hochgestellten Persönlichkeiten. Das Selbsthilfeprinzip konnte damals ohne finanzielle ‘Starthilfe’ noch nicht funktionieren. Weitere Baugenossenschaften, die in dieser Zeit entstanden, waren der Bremer Bauverein (1873), die Bau-Spargenossenschaft zu Breslau (1868), der Bauverein zu Charlottenburg (1872), die Baugenossenschaft zu Darmstadt (1868) und der Wohnungsverein zu Halle/Saale (1871).

Zu den Gründungen, die die weitere Entwicklung beeinflußten, gehörte die 1875 in Hamburg aus einer gewerkschaftlichen Organisation hervorgegangene "Allgemeine Deutsche Schiffszimmerergenossenschaft". Die Schiffszimmerer, die bereits an der Gründung von 1862 maßgeblich beteiligt gewesen waren, gingen dabei erstmals ohne jegliche "Hilfe von oben", nur nach dem Selbsthilfeprinzip vor. Wegen ihres gewerkschaftlichen Entstehungszusammenhanges hatte die Genossenschaft bis zur Aufhebung des Sozialistengesetzes 1890 mit erheblichen Schwierigkeiten zu kämpfen.

 
Um 1894/95 in Berlin errichtete Wohnsiedlung, die zum Prüfstein wohnreformerischer Ansprüche werden sollte.  

1878 kam es zur Gründung des "Flensburger Arbeiterbauvereins", als dessen geistiger Vater der Landesversicherungsrat Peter Christian Hansen (1853-1935) anzusehen ist. Hansen orientierte sich am Vorbild des Kopenhagener Arbeiterbauvereins und brachte neue Prinzipien in die Bewegung. Bis dahin hatte man sich in erster Linie am englischen Genossenschaftsmodell orientiert. Hansen gelang es, den Vorstand des Flensburger Arbeitervereins für seine Pläne zu gewinnen. Am 14. Mai 1878 wurde der Beschluß zur Errichtung des Arbeiterbauvereins gefaßt, am 22. Juni erfolgte die endgültige Gründung. Trotz des Problems der unbeschränkten Haftpflicht hatte der Verein viele Mitglieder, was als großer Erfolg zu werten ist. So wurde der Flensburger Arbeiterbauverein später Vorbild zahlreicher anderer Genossenschaften in Schleswig-Holstein, so in Gaarden, Kiel und Umgebung. Es entwickelte sich in den folgenden Jahren ein ganzes Netz an Baugenossenschaften.

Ebenfalls nach Kopenhagener Modell erfolgte die Gründung des "Spar- und Bauvereins Hannover" (1885). Auch hier kam der Anstoß aus Arbeiterkreisen. Der Spar- und Bauverein wies eine entscheidende Besonderheit auf: erstmals beschränkte man sich ganz auf den Mietwohnungsbau. Ursprünglich war in der Genossenschaftsbewegung der Eigentumsgedanke zentral gewesen. Da sich die Umsetzung dieses Prinzips in der Realität als ausgesprochen problematisch erwies, hatte man bis dahin sowohl Eigenhäuser als auch Mietwohnungen gebaut. Diese Frage sollte im weiteren Verlauf der Entwicklung noch zu einem Prinzipienstreit führen. Auch der Spar- und Bauverein Hannover fand Nachahmer, d.h. Nachfolgegründungen nach dem gleichen Prinzip: den "Göttinger Spar- und Bauverein" (1891) sowie den "Berliner Spar- und Bauverein" (1892), von dem später auch der Prinzipienstreit ausgehen sollte.

Insgesamt kann man von einer verzögerten Entwicklung der Baugenossenschaften sprechen, wofür in erster Linie rechtliche und finanzielle Gründe zu nennen sind. Der Ursprung der gemeinnützigen Wohnungswirtschaft lag in den gemeinnützigen Kapitalgesellschaften, die die Gründungsphase dominierten.